Rechtstwitterbeschimpfung
Der Begriff „Beschimpfung“ ist, wie der ganze Text, nicht allzu ernst zu nehmen. Schließlich geht es bei „Rechtstwitter“ (RT) nicht um eine Bewegung oder eine politische Ideologie, sondern im Grunde um einen politisch belanglosen Zeitvertreib. Seine Kritik muss daher notwendigerweise noch ein Stufe belangloser sein und „Ne komm“ wäre eventuell ein guter Ersatz für diesen ganzen Artikel. (Wir hoffen den wartenden Leser damit nicht allzu tief vergrämt zu haben, fanden es aber bei diesem Thema angemessen.) Doch RT könnte als Symptom des Zustands rechter Zusammenhänge Teil einer Problematik sein, die alles andere als belanglos ist.
Konkret tauchte der Begriff als Selbstbezeichnung für eine lose Gruppe meist anonymen Twitteraccounts auf, die sich zum rechten Lager zählt. Der Begriff sowie das Erscheinungsbild von RT ist „Sifftwitter“ nachempfunden, einem ebenso losen Twitter-Trollring, der aus der „Drachenlordhaiderblase“ erwuchs. (Wem all diese Begriffe nichts sagen, der kann sich beglückwünschen und sie einfach überlesen.) Während Sifftwitter durch rigoroses Trollen und einen völlig anarchischen Humor auffiel, der keinerlei Political Correctness kannte, und sich vom linksliberalen Mainstream ebenso abgrenzte wie von rechten Bewegungen, so ordnet sich RT politisch klar rechts ein. Man ist in der Regel nationalkonservativ, aber auch Nationalbolschewisten, Neopaganisten und Radikalkatholiken werden geduldet. Wichtig ist im Grunde nur, dass man möglichst „edgy“, also randständig und radikal, rüberkommt.
Edgyness & Ironie
Auf RT gilt: wer zuerst Gefühle und Skrupel zeigt, zurückschreckt, moralisiert oder persönlich betroffen ist, ist „getriggert“ und hat verloren. Keine moralischen Hemmungen zu haben und alles ironisch zu meinen gehört bei RT zum guten Ton. Die Jagd nach „Edgyness“ und Kantigkeit führt zu absurden ideologischen Auswüchsen. Hyperradikale Patchworkideologien wechseln sich Woche für Woche ab, und werden stolz in Twitterbios präsentiert. Da sich der Aktivismus der RT-User auf Postings beschränkt und sie in der Regel keine Bewegung oder Partei, sondern nur sich selbst vertreten, misst sich ihre Relevanz an der Reaktion, die ihre digitalen Entäußerungen erzeugen. Da aber jedes Twitterprofil prinzipiell gleich, und das Design jedes Tweets ident ist, muss man zu hartem Tobak greifen um aufzufallen. RT reproduziert das Problem des neuzeitlichen Subjektivismus und liberalen Individualismus. Die egalitär nivellierten Subjekte erfahren ihre Austauschbarkeit und Belanglosigkeit und versuchen mit den irrsten Windungen und Identitätssaltos „einzigartig“ zu werden. Reichten vor wenigen Jahren noch Tattoos und peinliche Frisuren, so greift man heute immer häufiger zum (manchmal chemischen) Messer, um sich zur „individuellen“ Hormonbaustelle zu deformieren. RT funktioniert nach denselben Prinzipien.
Hunderte anonyme Einzelprofile basteln an einem möglichst originellen Avatar, mit möglichst auffälligem Profilbild, krassem Namen und möglichst anstößigen, schockierenden und „authentischen“ Tweets. Kompliziert wird es dadurch, dass man diesen Aufwand und diese Ernsthaftigkeit nicht ansehen darf. Es muss wie gleichgültig hingeworfen wirken und erinnert so an die „Tornjeans“, oder den „messy Look“, der mit hohem Aufwand vorbereitet wird.
Auf Twitter kann man keine Aktionen setzen. Man kann nicht durch Charisma, Auftreten oder Taten glänzen. Als anonymes Profil bleibt einem nur der Schock, die Provokation und die so generierte Aufmerksamkeit, um hervorzustechen. Der NS und Rechtsextremismus im Allgemeinen ist, wie ein bekanntes Internetgesetz beweist, der Fluchtpunkt aller Radikalität. Da in einer führungslosen und hierarchielosen Assemblage an anonymen Usern keine „Message Control“ durchgesetzt werden kann, wirken diese Mechanismen völlig ungehemmt und ungebremst. Post für Post setzt sich der radikalste Tabubruch durch. Wichtig ist dabei nur, dass diese sichtbar ironisch getätigt werden, also das klar wird, dass derjenige nicht wirklich überzeugt und idealistisch an NS und Faschismus glaubt. Bewusst wird an diesen Ideologien letztlich nur ihr Schockpotential geschätzt, womit ihr Missbrauch durch die herrschende Elite affirmiert wird. Wer Einhalt gebietet macht sich lächerlich und wirkt schwach. Der RT-User will zwar nicht sein Gesicht zeigen, noch weniger will er aber sein Gesicht verlieren.
Notwendig findet damit eine Enthemmung, Desensibilisierung und Radikalisierung statt. „Die Authentizität ist letzten Endes eine neoliberale Produktionsstrategie. Das “Ich” wird dem Zwang unterworfen, als Unternehmer seiner selbst permanent sich selbst zu produzieren“, schreibt Byung-Chul Han in einem Aufsatz über Narzissmus. Der RT-User produziert und repräsentiert sich entsprechend derselben Mechanismen und aus denselben Gründen wie die durchschnittliche TikTok-Userin: er will Anerkennung und Wertschätzung. Seine Weltanschauung verweist ihn dabei nur auf eine bestimmte politische Nischen-Peergroup, und statt mit knappen Outfits und sexy Tanzchallenges macht er eben mit Memes und kantigen Aussagen auf sein „einzigartiges Ich“ aufmerksam. Gewiss gibt es User, die mit qualitativ hochwertigen Überlegungen, originärem Witz oder kreativem Talent Aufmerksamkeit erzeugen. Wem das fehlt (und das sind viele) dem bleiben nur Schimpftiraden, faschistische Ästhetik, NS-Anspielungen, Vernichtungsfantasien und im schlimmsten Fall die schamlose Prostitution intimer Gefühle und sexueller Fantasien, um sich im Aufmerksamkeitswettstreit durchzusetzen. Was man damit erreichen will ist dasselbe, wovon jedes TikTok-Girl träumt: der RT-User will als Person wahrgenommen werden und sein Selbstwertgefühl, dass womöglich in seinem beruflichen und studentischen Doppelleben als angepasster Normie leidet, radikal aufwerten.
Wie das TikTok-Girl täuscht der RT-User sich und andere dabei und tut so, als wäre ihm das alles nicht wichtig, und als wäre Twitter allgemein und RT im Besondern ohnehin unter seiner Würde. Die Beharrlichkeit, mit der er jedoch nach jeder Accountsperrung immer und immer wieder mit einem neuen Konto zurückkommt legt nahe, was er nicht wahr haben will: er braucht RT um sein Ich zu stabilisieren.
Das Tragische daran: Der Schutzschild der Ironie, der ihn davor bewahrt naiv und „cringy“ zu wirken, führt zu einer Spirale des Zynismus. Nur der, dem irgendetwas etwas ernst und heilig ist, der kann darüber ernsthaft „getriggert“ werden. Jeder echte Mann hat Werte und Ideale, deren Beleidigung im realen Leben zu Konsequenzen führen muss.
Da man auf Twitter in diesem Fall nur in fruchtlose Beschimpfungen und peinliche „Herausforderungen“ im Stil des Drachenlords verfallen kann, muss der, dem etwas ernst und heilig ist, entweder diese Sphären meiden, oder er baut diese Gefühle ab und „desensibilisiert“ sich. Die ironiegetränkten DIY-Ideologien und Shitpostings können daher wie eine psychologische Mühle wirken, die alle Ideen und Werte sarkastisch zermahlt und in zynischen Staub verwandelt. Ernsthafte Wahrheitssuche wird auf Twitter mehr als in jeder anderen Debatte durch Schockmoment und Schlagfertigkeit ersetzt. Nicht was sinnvoll, gut und erstrebenswert, sondern was „based“ ist, zählt. Wessen primäres politisches Umfeld RT ist, der läuft Gefahr dieses plumpe und geistesschwache Denken zu internalisieren, und am Ende sogar diese Sprache in seinen persönlichen Sprachgebrauch einfließen zu lassen. Wir kennen tatsächlich einige Personen, die sich durch ihren Aufenthalt auf RT radikal zum Schlechten verändert haben.
Folgenlose Kantigkeit
In Korpokreisen existiert sein geraumer Zeit der Begriff „abhitlern“. Gemeint ist damit der übertriebene Verbalradikalismus mancher „Alter Herren“ und „Verkehrsgäste“, die im Alltag aalglatte Liberale sind, jedoch einmal im Monat hinter Schloss und Riegel zu verwegenen Kellerrebellen mutieren. Jeder „Fuchs“ der schon einmal Beisitzer dieser bierseliger Eskalationen sein und als Projektionsfläche für die „eigene, wilde Jugend“ herhalten musste, wird wissen, wovon die Rede ist. Den RT-User quält vermutlich ebenso ein Überdruss am apolitischen Alltag, seiner linken Schulklasse oder seinem langweiligen Job, indem er sein politisches Powerlevel verbergen muss. Die Differenz zwischen seinem Wissen (um Deutschlands Untergang), seinem Wollen (Deutschlands Auferstehung) und seinem Tun (nichts) quält ihn und diese Qual treibt ihn auf Twitter. Der digitale Verbalradikalismus ist Ausdruck einer realen Apathie und Tatenlosigkeit.
Bewegungen und Parteien sind dem RT-User nur Gegenstand des Spottes. Er verlacht sie für ihre Imperfektionen und ihr „Scheitern“, das er glasklar daraus folgert, dass noch kein futuristischer Ethnostaat etabliert ist. Der Grund dafür, dass er vor diesem Scheitern gefeit ist, liegt jedoch nicht darin, dass er es besser macht. Es liegt daran, dass er gar nichts tut und daher keiner Fehler begehen kann.
Die Radikalität mit der er extreme Tweets raushaut, die Kühnheit mit der er Begriffe wie „Neger“ (vorzugsweise in einer koordinierten Tweetkette) gebraucht und radikale politische Lösungen einfordert, leidet etwas darunter, dass er das alles anonym und über VPN-Tunnel tut. Das Repressions-Risiko des RT-Users ist gleich null, und liegt unter dem eines beliebigen AfD-Wahlkampfhelfers oder YouTubers. Das einzige was ihn bedroht ist ein WLAN-Ausfall. Dennoch hat er panische Angst davor, gedoxxt zu werden. Bei dem Thema ist plötzlich alle Ironie und Edgyness wie weggeblasen: RT wird auf einmal weinerlich und spießig. Es geht ja um den Studienplatz und die Familie, um den Beruf und den Freundeskreis. Wie kann man nur!
Andere, die all das aufs Spiel gesetzt haben, werden vom RT-User gering geschätzt, da sie seinen Verbalradikalismus nicht teilen. Er wirft ihnen Anpassung und Liberalismus, oder, falls sie „Boomer“ sind, ihr fehlendes Stilgefühl, vor und unterstreicht dies mit zahlreichen Screenshots und Zitaten. Am wenigsten gefällt dem RT-User eine Ablehnung von Gewalt, oder gar eine Abgrenzung zu politischen Extremen vonseiten realpolitischer Akteure. Rasch wird derjenige als „Cuck“ abgestempelt und dem Gespött von RT preisgegeben. Dort frönt man indes der digitalen Militanz (natürlich nur solange der VPN-Tunnel steht.) Realpolitische Akteure hingegen, welche die Codes von RT aufgreifen, oder gar verpönte Begriffe wie „Neger“ sagen, den Usern Shoutouts geben und sich sonst wie an die digitale Community anbiedern, werden von ihnen als „Kings“ abgefeiert. Ein guter Teil der Entwicklung der US-amerikanischen Alt-Right kann dieser Dynamik zugerechnet werden. Führende Akteure sehnten sich nach der Anerkennung und digitalen Apotheose durch kleine, radikale Internetcommunities, und ließen dafür Strategie, zielführende Kommunikation und den Fokus auf die breite Masse fallen. Der typische RT-User wäre nach seinem Profil: jung, männlich, gebildet, radikal und an Europas Untergang leidend, eigentlich der ideale Vertreter einer aktivistischen, rechten Avantgarde. Auch das „Chaos“, das er in sich trägt, wäre hier hilfreich. Er passt weder in die massenbasierte Partei, noch in die massenorientierte Gegenöffentlichkeit, sondern wäre berufen, im Bereich des Aktivismus, der Gegenkultur und der Bewegung wirksam zu werden. Der Zynismus, die Anonymität, die Pseudomilitanz und Larmoyanz des Twitterdaseins sowie das Vegetieren in digitalen Scheingemeinschaften scheinen heute jedoch eine gangbare Alternative zur Aktion und der Gründung realer metapolitischer Projekte zu sein. Das Stagnieren der Gegenkultur, der Bewegung und der Mangel an avantgardistischen rechten Projekten, sowie das Auftreten und Wachsen von RT hängen womöglich zusammen.
Apokalyptik & Anonymität
„Gesicht zeigen“ gilt auf RT bestenfalls als belächeltes Meme, teilweise sogar als gefährliche Dummheit. Die eigene Anonymität, die den „basierten“ Verbalradikalismus ermöglicht, wird teilweise sogar auf verschlagenen geistigen Pfaden zur strategischen Entscheidung stilisiert. Man imaginiert sich in eine Rolle als Untergrundkämpfer und das eigene Posten zu einer Form des „Aktivismus“, einer Art von Propaganda im memetischen Infokrieg. Tatsächlich ist es aber eine digitale Selbstbefriedigung in einer kleinen Echokammer, die außer einigen staatsfinanzierten Rechtsextremismusexperten niemanden interessiert. In einem hat man Recht: „Gesicht zeigen“ ist als Aufruf verbrannter Aktivisten oder 0815-YouTuber eine leere Parole. Warum sollte man grund- und ziellos seine Anonymität lüften, um sich Antifaterror oder gar Strafverfolgung auszusetzen? Noch absurder ist es aber, die Anonymität als eine Art „Schläfertaktik“ und „Unterwanderungsstrategie“ darzustellen. Tatsache ist, dass im Moment keine Idee, keine Strategie und keine Bewegung existiert, die es dem RT-User wert wäre, den Rubikon der Öffentlichkeit zu überschreiten. Wenn dieser Weg jedoch existieren würde, wäre es die moralische Pflicht eines jeden, ihm zu folgen und dafür zur Not auch Gesicht zu zeigen. Dass er nicht existiert, bedeutet eine andere Aufgabe: nämlich an diesem Weg zu arbeiten, ihn denkerisch vorzubereiten, aktivistisch auszuloten und dabei aus Erfahrung, Erfolgen und Fehlern der Vorgänger zu lernen. Davon ist aber auf RT nichts zu lesen und im „Real-life“ (RL) nichts zu sehen. Über das „Gesicht zeigen“ nachzudenken, heißt, über das Aktiv werden nachzudenken und nach einer Aufgabe zu suchen, die es wert ist „All in“ zu gehen und sich ihr ganz, falls nötig auch mit Klarnamen, zu opfern. Dieser Gewissensbefehl ist dem RT-User lästig, weswegen er das „Gesicht zeigen“ zum Meme verzerrt hat. Vielen Usern scheint zudem nicht klar zu sein, worauf der Mythos des „Gesicht-zeigens“ wirklich beruht. Dass es heute einer Überwindung bedarf, sich als Patriot und Rechter zu outen, ist Ausdruck der totalitären Dominanz unserer Gegner. Die Sorgen sind begründet und die Ängste real. Ein repressives System der sozialen Kontrolle ahndet jedes Ausscheren. Wer seine Ausbildung, Karriere und bürgerliche Existenz behalten möchte, fügt sich. Genau dieser Zustand, und mit ihm die linke Metapolitik, muss überwunden werden, um eine politische Veränderung zu bewirken. Veränderungen in diesem System sind erst denkbar, wenn sie überhaupt öffentlich ansprechbar sind. Sie anzusprechen bedeutet aber immer „Gesicht zeigen“, ob das nun beim Familientreffen, in der Kantine, auf einer Demo oder im nationalen Fernsehen der Fall ist. Es gibt viele Strategien und Aktionen, die anonym möglich sind. Ob in der Gegenöffentlichkeit, wo viele anonyme Medienproduzenten wesentlich effektiver sind als die Masse jener die „Gesicht zeigen“, oder im digitalen Schwarmaktivismus, wie er zB. vom „Reconquista Germanica (RG)“-Forum organisiert wurde. Doch all diese Vorgehensweisen müssen letztlich immer das Endziel haben, die erzwungene Anonymität zu überwinden. Anonyme Vorbereitungen der Sauberkeit müssen immer in realer Sauberkeit münden, die zur politischen Umsetzung führt. Der Einwand gegen das „Gesicht zeigen“ ist daher nur insofern gerechtfertigt, als man es als „zu früh“ oder als „unkluge Verheizung“ kritisiert. Diese Kritik impliziert aber, dass es einen richtigen Zeitpunkt und einen klugen Einsatzmoment für das Outing gibt, an dem zu arbeiten und dessen strategische Vorbereitung die Pflicht wäre.
Stattdessen ist ein anderer Trend bemerkbar. Die allgemeine Anonymität im rechten Lager ist Ausdruck seiner Ohnmacht und Unterwerfung unter den linken Status quo. Daraus wird nun absurderweise eine rebellische Pose. Man fühlt sich als anonymer „Untergrundkämpfer“, und macht aus der erzwungenen Not eine subkulturelle Tugend. Es ist, als würde man die Ketten, in die man geschlagen ist, vergolden, und sich als Modeaccessoires um den Hals hängen. Wir müssen stattdessen einen Zustand erwirken, in dem man auch unter Klarnamen kontroverse Meinungen posten kann, ohne damit seine soziale Existenz in die Luft zu jagen. Wer das als utopischen Pathos betrachtet, hat sich bereits dem Zynismus ergeben oder hofft auf ein Wunder.
Tatsächlich ist der Kult der Anonymität direkt mit dem Tag-X-Denken verschwistert. Der Tag an dem man die Masken fallen lassen, „All-in“ gehen und aktiv werden will, wird von einem äußeren unbeeinflussbaren Ereignis abhängig gemacht. Bis dahin verfolgt man brav seine Karriere, macht eine gute Ausbildung, geht arbeiten, trainieren und gönnt sich eben auch den Urlaub mit den Eltern in Tunesien, das Partywochenende mit den Jungs in Prag, die tägliche Gamingsession, das wochenendliche Bingesaufen, das neue Auto, etc. pp.
Wer nicht daran glaubt, dass eine konkrete Veränderung im Rahmen des Bestehenden, und sei es auch nur eine Verbesserung der Lage, möglich ist, sollte diesen Rahmen sofort verlassen, anstatt seine Energien weiter dem System zuzuführen. In einem nach eigener Ansicht absolut todgeweihten System eine Zukunft aufzubauen, einer Ausbildung, oder einem Beruf nachzugehen, oder halbherzig und hoffnungslos an einem halbgaren patriotischen Projekt mitzuarbeiten, während man sich auf Twitter in Zynismus ergeht, ist hochgradig inkonsequent. Viele RT-User neigen daher, offen oder unbewusst, zum Tag-X Denken. Sie hoffen auf den Zusammenbruch des Bestehenden. Einige sehen ihre Anonymität und Apathie sogar bewusst als eine Art „Drop Out“, also Systemausstieg wie ihn James Mason in „Siege“ anempfiehlt. Die strategischen Schwächen dieses Denkens sind hinlänglich bekannt und wurden am Funken vor langer Zeit in diesem Artikel aufgezeigt. Tatsächlich sind sie nichts anderes, als eine blinde Hoffnung auf eine erlösende Krise und eine Änderung der Umstände, in denen sich die Problemstellung dem eigenen Lösungsangebot anpasst. In der derzeitigen Lage ist man ohnmächtig und steht dem metapolitischen Machtgefüge ratlos und verzweifelt gegenüber.
Der altrechte Wehrsportler war wie ein Wahnsinniger, der hundertmal hintereinander versucht hat, mit einem Schlüssel eine Keycard-gesicherte Tür zu öffnen. Der Tag-X-Anonymous sitzt mit seinem Schlüssel daneben und hofft, dass sich der Kartenleser irgendwann in ein Schloss verwandelt, in das sein Schlüssel zufällig passen wird.
Das erhoffte Ereignis wird in der Regel als eine reinigende, gewaltige Welle imaginiert, die ein und für alle mal alles in Ordnung bringt, und die eigene Gruppe mirakulös an die Macht spült. Dass politische Veränderung eine langwierige und schwierige Arbeit erfordert, die in Krisen nur Beschleunigungen und Intensivierung bestehender Tendenzen und keinen zufälligen „New Deal“ bedeutet, bleibt unbedacht. Erkennt man Vernetzung, Schulung, Organisation, Kader- und Strukturbildung als „politisches Kapital“, das selbstverständlich vor einer Krise aufgebaut werden muss, um dann eingesetzt zu werden, so ist Rechtstwitter schlicht pleite. Das liegt, wie eingangs gesagt, daran, dass RT keine Bewegung und keine Organisation, sondern ein Konglomerat ist. Das Problem ist, dass der Diskurs, den es geschaffen hat, nicht einmal den Willen zur Form und zur Bewegung aufweist, sondern das Gegenteil bewirkt. Die Kritik an bestehenden Gruppen und Organisationen ist meist rein destruktiv. Man hat keine Verbesserungsvorschläge. Am Ende will sie nicht durch eigene Ansätze übertrumpfen und überflügeln, wie das in der identitären Kritik am altrechten Lager deutlich wurde. Was man an ihnen stattdessen kritisiert, ist ihre Ernsthaftigkeit, ihre seriösen Versuche eine Message Control und gute „Optics“ herzustellen, die mit einer hämischen Perfidie sabotiert werden. Die Bilder schlachtreifer Krebse im Plastikkübel, die einander immer, wenn einer aus dem Todesgefäß krabbeln könnte, wieder hinunterziehen, kommt in den Sinn. Was RT letztlich an konkreten politischen Bewegungen kritisiert ist, dass sie ihre Pseudomilitanz und ihren Verbalradikalismus nicht teilen und ihnen nicht durch Codes und Shoutouts Tribut zollen.
Als Antithese zu jedem geplanten, strategischen, öffentlichkeitswirksamen und anschlussfähigen Auftreten, dass sich nicht wie RT den TikTok-Gesetzen der Schockwirkung beugt, muss jede politische Partei und Bewegung deren Kritik verfallen.
Jedes Anzeichen von ernsthafter Planung, Organisation und Hierarchie wird lächerlich gemacht, stattdessen erregt man sich sehnsüchtig an Bildern von kommunistischen Guerillas aus dem 20. Jh, Balkan-Fightclubs, migrantischen Gangs oder maskierten Waffensammlern.
Der RT-User will vom Aktivismus und der Politik primär unterhalten werden. Mehr noch: er glaubt, ganz in seiner Rolle als Bestandteil des digitalen Publikums aufgegangen, einen Anspruch auf diese Unterhaltung zu haben. Er misst Politiker und Aktivisten daher am Unterhaltungswert ihrer Aktionen und Aussagen. Ob sie strategisch sinnvoll sind ist zweitrangig. Das Spektakel muss spannend, edgy, ästhetisch ansprechend und packend sein, sonst wird weggeklickt wie bei einer langweiligen Netflixserie. Jeder Ansatz im Bestehenden, der notwendig am Status quo ansetzen muss, wird so als „schwul“ und „liberal“ verworfen, während man im endlosen digitalen Dopamintrip ohnmächtig auf eine erlösende Krise wartet.
Dopamin und Einsamkeit
Die Sucht nach Anerkennung und der Drang wahrgenommen zu werden treibt den RT-User auf Twitter. Seine anonyme Pseudomilitanz, seine Edgyness, würde ihm, ohne die zur Schaustellung auf einer Mainstream-Plattform, nichts geben. Was wäre er ohne Twitter? Was wären seine misantrophischen, hyperradikalen Tweets, wenn sie nicht gelesen würden?
Wenn ein RT-User eine Skull-Maske überzieht, aber davon kein Foto auf Twitter stellt, hat es dann überhaupt stattgefunden?
Was wir auf Twitter sehen ist eine Persona, die der RT-User wie eine Reuse im Netz auslegt, um regelmäßig Likes, Threads, Retweets und andere Formen fremder Wahrnehmung abzuernten. Der Dopamin-Kick, den er darin sucht, führt insbesondere dann zur Abhängigkeit, wenn im realen Leben solche Möglichkeiten der Anerkennung ausbleiben. Ein politischer Akteur oder Aktivist sucht seine Bestätigung über reale Aktionen auf der Straße. Ein Erfolgsgefühl stellt sich nach einer Aktion oder einer erfolgreichen Veranstaltung ein. Seine Identität und sein Selbstbewusstsein werden durch die Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft, in die er sich hierarchisch einfügt, stabilisiert. Der Einzelne tritt daher hinter Gemeinschaft, Gemeinschaftswerk, der Aktion und ihrer metapolitischen Wirkung zurück. Der RT-User steht als totaler Individualist und Teil einer losen, zänkischen und ironisch fragmentierten „Community“ nur für sich als Einzelner und für sein „Eigentum“ (also seinen edgy Feed). Dieser steht in harter Konkurrenz zu hunderten anderen. Man gibt sich in wechselnden Allianzen gegenseitig Rücken, trägt Fehden aus und durstet täglich nach dem neuesten Skandal und Klatsch. Da jede vereinende Weltanschauung und jede gemeinsame Strategie fehlt, vertritt jeder User eine Ich-AG im Aufmerksamkeitsmarkt. Der regelmäßige Klick auf die App, das Checken der eigenen Mentions, (im Fortgeschrittenen Stadium, das Suchen nach Nonmentions), werden zur Gewohnheit und bald zum unverzichtbaren Bedürfnis. Der pure Dopamintrip, den man sich auch in höherer Qualität bei einem Computerspiel verschaffen könnte, ist hier allerdings zweitrangig. Es geht um eine komplexere Psychodynamik. Der Reiz von RT ist der einer „politischen Masturbation“. Der durchschnittliche RT-User weiß genau, was gerade in Deutschland und Europa abläuft. Er hat keinerlei Aufklärungsbedürfnis über den Ernst der Lage. Der logische Drang sich politisch zu betätigen und Bestätigung für die imaginierte Rolle als Rebell zu suchen, treibt ihn aber nicht auf die Straße oder in konkrete digitale politische Projekte, sondern in ein kommunikatives Spiel ohne jeden metapolitischen Wert. Die Struktur der Plattform macht das unmöglich. Während sogar aus altrechte RT-Vorläufern wie dem „Thiazi-Forum“, noch Projekte und Vernetzung hervorgehen konnten, verkommen Privatnachrichten(PN)-Gruppen auf RT endgütig zu Shitpostämtern. RT nimmt in der Zerstreuungsindustrie die Rolle eines speziellen MMORPGs für Rechte ein, das sie spielen, um ihren politischen Bestätigungsdrang folgenlos abzureagieren. Dieses Online-Rollenspiel zur Bindung, Desensibilisierung und vor allem Beschäftigung ausgewählter, politisch interessierter Jugendlicher ist allerdings kein Trick der „Eliten“. Es ist von alleine entstanden. RT ist nicht was Twitter mit Rechten gemacht hat, es ist was Rechte aus Twitter gemacht haben. Die RT-Masturbation ist unfruchtbar, folgenlos und steril. Aus der digitalen Assemblage erwachsen niemals echte Gruppen und Gemeinschaften. Auch Projekte der Gegenöffentlichkeit, die vom Geiste RTs verseucht sind, reproduzieren dessen Probleme, von erzwungener Edgyness, Verbalradikalismus, zwanghaftes pubertierendes Witzeln, Strategielosigkeit bis hin zum Kult der Anonymität und Gewalt und bleiben von dem RT-Diskurs abhängig. Letztlich sind ihre Produktionen nur erweiterte Shitposts, „RT-Reports“ die zur Unterhaltung, Provokation und Selbstbeweihräucherung einer gelangweilten Twitteria dienen. Durch RT werden weder neue Zielgruppen erschlossen, noch entstehen dort in Threats neue Ideen und Theoriebildung. Es bilden sich dort bislang kaum gegenkulturellen Projekte, und schon gar keine ernsthafte Debatten über eine Strategie zur Rettung Deutschlands. Allein das anzusprechen und einzufordern muss im zynischen Licht von RT bereits als lächerlicher „cringe“ erscheinen. Der Ernst und der Idealismus, der vor RT in den meisten rechten Projekten vorherrschend war und teils in peinlichen Posen verknöcherte, schlägt nun in sein Gegenteil um. Kaum auszudenken, was jene Vordenker und Helden des rechten Lagers, die auf RT als „based“ gewürdigt werden, über diesen neuartigen Auswuchs sagen würden.
Wenn man RT als einen wichtigen Diskursraum des rechten Lagers sieht, ist diese Analyse in der Tat ernüchternd. Tatsächlich ist Twitter eine wichtige Plattform, die für jede politische Bewegung eine große Bedeutung hat. Die Möglichkeit einen dergestaltigen semi-öffentlichen, dynamischen, kosten- und bindungslosen Diskurs zu führen gibt es derzeit auf keiner anderen Plattform. Eigentlich sollte Twitter aber als politisches Werkzeug und nur hin und wieder zur Unterhaltung gebraucht werden. Dass es RT als eigenes Phänomen mit Regeln, Denkweisen und Ritualen gibt, das mit einem eigenen „Gravitationszentrum“ sogar in andere Projekte einstrahlt und junge potentielle Aktivisten prägt und deformiert ist bedenklich. Traurigerweise ist RT sogar das, was im Moment einer rechten Jugendsubkultur noch am nächsten kommt. Weist es doch eine eigene Sprache und eine gewisse originäre Dynamik auf. RT selbst ist nicht ernst zu nehmen und jeder Versuch auf Twitter dagegen zu argumentieren ist zum Scheitern und zur Lächerlichkeit verurteilt. Die Folgen eines RT, das weiter wächst, ähnlich der US-amerikanischen Alt-Right, die mit „Bloodsports“, Cliquenbildung und endlosen Fehden eine Bewegung des Spektakels erzeugt, wären aber verheerend. Diesen durch und durch „angloamerikanischen“ Gesetzen des Spektakels, der Öffentlichkeit, der Show und des Scheins sollte eine kontinentaleuropäische Haltung der Disziplin, Hierarchie, Kommunikationskontrolle und instrumentellen Herangehensweise auf Social Media entgegengestellt werden. All das wird auch spätestens dann von selbst eintreten, wenn wieder eine neue aktivistische Welle durch die deutsche Jugend geht, und mit Taten Fakten setzt, vor denen selbst der ausgefeilteste Shitpost verblasst.
Die vielleicht einzige Gefahr besteht darin, dass RT genau jene jungen Leute, die auf einer ernsthaften Suche über Einsamkeit, Verzweiflung über die Lage und schließlich zur Setzung einer neuen Form und Gründung einer Gemeinschaft der Tat kämen, während ihrer wertvollen, entscheidenden Jahre bindet, sediert und aus dem Spiel nimmt. Ihnen sei mit Oswald Spengler etwas gesagt, das man auf RT nie sagen könnte:
„Es ist die heilige Pflicht der jungen Generation, sich für Politik zu erziehen. (…) Berufen ist man heute nicht dadurch, daß man sich und andere begeistern kann, sondern lediglich durch Eigenschaften, die denen des Gegners ebenbürtig sind. Auch für den Geringsten findet sich noch eine Aufgabe. Es gibt Tugenden für Führer und Tugenden für Geführte. Auch zu den letzten gehört, daß man Wesen und Ziele echter Politik begreift – sonst trabt man hinter Narren her und die geborenen Führer gehen einsam zugrunde. Sich als Material für große Führer erziehen, in stolzer Entsagung, zu unpersönlicher Aufopferung bereit, das ist auch eine deutsche Tugend. Und gesetzt den Fall, daß in Deutschland in den schweren Zeiten, die uns bevorstehen, starke Männer zum Vorschein kommen, Führer, denen wir unser Schicksal anvertrauen dürfen, so müssen sie etwas haben, worauf sie sich stützen können. Sie brauchen eine Generation, wie sie Bismarck nicht vorfand, die Verständnis für ihre Art zu handeln hat und sie nicht aus romantischen Gefühlen ablehnt, eine ergebene Gefolgschaft, die auf Grund einer langen und ernsten politischen Selbsterziehung in die Lage gekommen ist, das Notwendige zu begreifen und nicht, wie es heute ohne Zweifel der Fall sein würde, es als undeutsch zu verwerfen. Das, diese Selbsterziehung für künftige Aufgaben ist es, worin ich die politische Pflicht der heranwachsenden Jugend sehe.“
Das Phänomen RT ist Ausdruck und nicht Ursache eines tieferliegenden Problems. Wer es kritisiert, gleichzeitig aber kein Projekt aufzeigt oder schafft, an dem Zeit und Energie der RT-User besser investiert wäre, ist ebenfalls Teil des Problems. Dass Rechtstwitter das ist, was diese Generation hervorgebracht hat und am ehesten einer “Bewegung” gleichkommt, hat sie alleine zu verantworten. Dass jedoch alle bestehenden Bewegungen und Parteien nicht in der Lage sind, diese Generation anzusprechen und zu motivieren, fällt letztlich auf diese zurück. Aber das wird Gegenstand kommender Texte sein.
Based and redpilled
Das ist der Funke aus alten Tagen, gut so
Ein sehr interessanter Text. Endlich ist der Funke wieder da! Blöde Frage, aber können denn einige exemplarische Twitter-Accounts mal aufgezeigt werden? Ich selber nutze kein Twitter.